SHIMANO Gravel Alliance Fahrer Sofiane Sehili über die doch recht komplexen Überlegungen bei der Entscheidung für dein erstes Gravel-Bike. Und über die Möglichkeiten, dein ultimatives Gravel-Bike zu optimieren, um dein Fahrkönnen zu schulen und längere Strecken und größere Herausforderungen zu bewältigen.
Vielleicht hast du die letzten fünf Jahre den Hype um Gravel aus der Ferne verfolgt und wusstest nicht so recht, was du davon halten sollst. Hast beobachtet, wie aus den ersten großen Rennen in Amerika schließlich die UCI Gravel Weltmeisterschaft letztes Jahr in Italien entstand. Und vielleicht warst du anfangs ein wenig skeptisch.
Aber nachdem du immer noch dabei bist, hast du vielleicht auch Lust, dein Gravel-Erlebnis weiter zu vertiefen.
Vielleicht hast du dich mittlerweile an den Gedanken gewöhnt, mit Baggy-Shorts und Flanellhemd auf dem Bike unterwegs zu sein. Auch daran, dass du nach einer Tour mit Schlammspritzern auf den Klamotten und ziemlich verstaubt wieder zu Hause ankommst. Vielleicht bist du von SPD-SL auf SPD umgestiegen. Und hast erkannt, dass breitere Reifen nicht unbedingt langsamer sein müssen. Aber vielleicht wird dies auch dein erstes richtiges Gravel-Bike und du suchst nach einem Rad, mit dem du möglichst überall unterwegs sein kannst. Doch vor allem ist es jetzt für dich an der Zeit, den ganzen Stress im Straßenverkehr hinter dir zu lassen und weniger befahrene Pisten zu erkunden. Dich wieder mehr auf Abenteuer einzulassen und den Anzeigen im Display deines Fahrradcomputers weniger Beachtung zu schenken.
Bist du bereit für dein erstes Gravel-Bike? Ich fahre mittlerweile schon seit fast sieben Jahren „echte“ Gravel-Bikes und habe festgestellt, dass Gravel all das ist, was du beschließt, dass es sein soll. Nachdem ich schon an einigen Gravel-Rennen durchs Gelände teilgenommen habe, geht es mir heute bei Gravel nicht mehr so sehr um Geschwindigkeit und Leistung, sondern eher um den Spaß und die Lust, Neues zu entdecken. Für mich liegt der Reiz darin, der Stadt zu entfliehen und an der frischen Luft zu sein, im Wald Kraft zu tanken und die Stille der Natur zu genießen.
Tempo rausnehmen und entspannen
Um dich auf dein erstes Gravel-Bike einzustimmen, solltest du dich als Erstes von dem natürlichen Wunsch verabschieden, schnell unterwegs zu sein. Wenn du neues Gelände erkundest und der Untergrund rauer wird, lässt es sich gar nicht vermeiden, dass deine durchschnittliche Geschwindigkeit sinkt. Das ist auch völlig egal. Du kannst dir dein GPS so einstellen, dass es statt der Geschwindigkeit andere Werte anzeigt. Vielleicht deine Gesamtfahrzeit, die Höhenmeter oder – falls du so gar nicht auf die Anzeige von Trainingswerten verzichten kannst – die durchschnittliche Leistung.
Wenn du in einer Großstadt lebst, kann es wirklich viel Spaß machen, eine eigene Gravel-Strecke zu erstellen und diese bei jeder Fahrt nach und nach zu optimieren. Ich bin immer wieder erstaunt, wie man mit etwas Kreativität den über Asphalt führenden Teil der Strecke kontinuierlich verringern kann. Je öfter man hier und dort etwas Gravel einbaut, umso befriedigender wird es.
Für mich fühlt es sich immer wie ein kleiner Sieg an, wenn ich die perfekte Gravel-Strecke durch ein Stadtgebiet gefunden habe. Aber das Planen macht auch dann Spaß, wenn du nicht in einer ausufernden Mega-City lebst. Egal wo, Gravel eröffnet dir neue Möglichkeiten.
Noch während du auf dein neues Bike wartest, solltest du schon mal dein Lieblingstool für das Planen einer neuen Strecke öffnen und ein paar Nachforschungen anstellen. Siehst du ein paar coole Pfade und Trails, die du gerne fahren möchtest? Eine nette Gegend, die du etwas genauer erkunden willst oder ein paar Ecken, wo du noch nie warst? Das alles steigert die Vorfreude auf deine erste Fahrt!
Dein Bike-Setup
Wenn es das Gelände auf deiner Strecke erfordert, solltest du richtig breite Reifen aufziehen. Zu Beginn war ich auf einem Gravel-Bike mit ziemlich dünnen 35C unterwegs, doch je mehr ich mit meinem Bike fuhr, desto breiter wurden meine Reifen. Mittlerweile müssen es mindestens 42 mm sein und ich würde auch nicht zögern, Reifen mit 55 mm Breite aufzuziehen.
Denk nicht so viel über Geschwindigkeit nach, viel wichtiger sind der Komfort und die Möglichkeiten, die dir ein breiterer Reifen bietet. Vielleicht sind die Trails bei dir zu Hause ja alle schön einfach und schnell zu befahren, aber was, wenn du im Urlaub mit deinem Bike ein Abenteuer erleben willst?
Gibt dir dein Rahmen die maximale Breite vor?
Es kommt oft vor, dass der Rahmen die maximale Reifenbreite diktiert. Falls es in deiner Gegend ziemlich raue Schotterpisten gibt, solltest du darüber nachdenken, vielleicht mit maximaler Reifenbreite unterwegs zu sein. Lies nicht einfach nur die Beschreibung auf der Website des Herstellers, sondern recherchiere selbst ein wenig.
Auf jeden Fall solltest du darauf achten, dass dir noch etwas Spielraum bleibt, falls es in deiner Gegend recht schlammig werden kann. Es macht definitiv keinen Spaß, alle 5 Minuten anzuhalten, um Gabelkrone und Kettenstreben von dort festgeklebtem Schlamm zu befreien.
Falls es für dich unbedingt ein ganz bestimmter Rahmen sein muss und dieser nicht die erforderliche Reifenfreiheit besitzt, könntest du dich für 650B Laufräder entscheiden und so noch breitere Reifen aufziehen. Mein Vitus Substance bietet beispielsweise eine Reifenfreiheit von 48 mm mit 700C, aber wenn ich 650B Laufräder fahre, kann ich sogar Reifen mit 55 mm aufziehen.
Solltest du zu einem echten Gravel-Monster mutieren, es gibt mittlerweile immer mehr neue Bikes mit Gravel-spezifischen Federgabeln. Rockshox brachte die Rudy auf den Markt, Fox hat die 32 TC im Repertoire und MRP legt eine neue Version seiner Baxter auf. So ausgestattet gibt es kaum noch Orte, die für dich unerreichbar sind und fast kein Gelände, das dich aufhalten kann.
Schaltung, Aufweitung, Abstufung
Nächstes großes Thema: die Schaltung. Ich persönlich bin ein großer Fan von 1-fach-Kurbeln. Vor allem deshalb, weil du dir mit einer solchen Kurble unterwegs keine Gedanken machen musst. Solltest du allerdings in einem eher bergigen Gebiet wohnen oder öfter mal Bikepacking-Touren mit deinen Freunden unternehmen, würde ich dir eine 2-fach-Kurbel empfehlen. Mit einem kleinen Kettenblatt mit 31 Zähnen und einem größten Ritzel mit 34 Zähnen bist du bestens gewappnet, um auch schwierige Anstiege zu bewältigen.
Dann wäre da noch die Frage, ob es eine mechanische oder eine elektronische Schaltung sein soll. Da ich früher viele längere Touren gefahren bin, habe ich lange überlegt, ob ich auf Di2 umstellen soll, weil mir die Zuverlässigkeit und Reparaturfähigkeit einer mechanischen Schaltung extrem wichtig waren.
Also nutzte ich die Di2 zuerst nur bei Rennen und Bikepacking bei mir zu Hause, wobei mir die weiche und präzise Schaltung sofort zusagte. Nachdem ich etwas mehr Vertrauen in die Technik gefasst hatte, fuhr ich damit auch längere Touren, bis ich mich schließlich dazu entschloss, sie auch auf meinen Touren in die entlegensten Regionen von Südostasien zu verwenden.
Ich denke, jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er lieber mit einer mechanischen oder einer elektronischen Schaltung unterwegs ist. Meiner Ansicht nach sind beide gleich zuverlässig und eignen sich beide für Tagestouren, Rennen oder Bikepacking.
Eine weitere Anomalie an Gravel-Bikes sind Lenker mit Flare – dabei ist der Unterlenker breiter als der Oberlenker. Außerdem ist der Unterlenker im Vergleich zu einem Rennradlenker etwas flacher. Dank der sich daraus ergebenden, breiteren Griffhaltung bieten Lenker mit Flare mehr Kontrolle. Den Gesetzen der Physik zufolge werden die Lenkbewegungen umso präziser, je größer der Abstand der Hände zum Vorbau ist. Abgesehen davon habe ich einfach das Gefühl, dass Gravel-Lenker mehr Komfort bieten.
Von Eintagestouren bis hin zu Mehrtagestouren
Wenn man heute über Gravel-Bikes spricht, geht es meist auch ums Bikepacking. Ein Vorteil von Gravel-Bikes sind die vielen Ösen, an denen sich Zubehör wie zusätzliche Flaschenhalter, Schutzbleche, Halterungen und Taschen befestigen lassen.
Man könnte das Gravel-Bike auch als das Schweizer Taschenmesser des Radsports bezeichnen: du kannst es als Rennrad oder als Mountainbike fahren, dich damit auf den Weg zur Arbeit machen und auch längere Touren mit Gepäck unternehmen. Es erschließt dir neue Welten, angefangen bei den Pisten in deiner Gegend bis hin zu den Steppen Zentralasiens und den mystischen Gipfeln der Anden (nur einige der Orte, die ich mit meinem Gravel-Bike erkundet habe).
Nachdem du das alles jetzt weißt, fragst du dich vielleicht, was in aller Welt dich nur so lange davon abgehalten hat, dir dein erstes Gravel-Bike zuzulegen. Seien wir ehrlich, vermutlich waren es die Flannellhemden. Aber die gute Nachricht ist, die sind nicht verpflichtend. Ebenso wenig wie die Cargo-Shorts und das Craft-Bier. Zieh einfach an, worin du dich wohl fühlst. Fahr da, wo keine Autos hinkommen und nach einer langen Tour trinkst du am Abend einfach das, was dir schmeckt.
Über Sofiane
Sofiane Sehili lebt in Paris und ist einer der weltweit besten Gravel-Fahrer auf der Ultra-Distanz. Berichte von seinen Abenteuern und Tipps zum Bike-Setup findest du auf seinem YouTube-Channel.