Ein einsamer Fahrer macht sich an seinem Auto auf dem Parkplatz der Kronplatz-Seilbahn bereit. Noch steht die Sonne zu tief, um die umliegenden Berggipfel in ein warmes Licht zu tauchen und die Frische dieses frühherbstlichen Tages zu vertreiben. Mit akribischer Präzision bereitet sich der Fahrer, Florian Nowak oder einfach Flo, vor. Jedes Detail wird im Hinblick auf die bevorstehende Tour überprüft, denn unbemerkt von den Arbeitern, die mit ihren E-Bikes über den Parkplatz brausen, bricht Flo zu einem Rennen auf, um die Fastest Known Time auf den diversen Untergründen rund um den Kronplatz vorzugeben.
Eine Fastest Known Time, kurz FKT, ist die schnellste, nachgewiesene Zeit auf einer bestimmten Route oder Strecke. Es handelt sich um eine Wettkampfform, die im Radsport während der coronabedingten Zwangspause an Bedeutung gewonnen hat. Da Rennen abgesagt waren, suchten Fahrerinnen und Fahrer nach einer alternativen Form des Wettkampfs. Für diejenigen, die draußen fahren konnten, boten FKTs eine einzigartige Möglichkeit, was zur Folge hatte, dass dieses ultimative, sozial distanzierte Rennformat, das bereits in einer kleinen, eingeschworene Community bekannt war, explodierte.
Wie es der Zufall will, war es eine Coronainfektion im Jahr 2022, die Florian Nowak, einen deutschen Ex-Profi-Straßenrennfahrer und SHIMANO Gravel Alliance-Fahrer, dazu inspirierte, in die Welt der FKTs einzusteigen. „In diesem Sommer musste ich sämtliche Rennpläne absagen, als ich an Corona erkrankte. Nachdem ich wegen der Krankheit fast sechs Wochen mit dem Training aussetzen musste, wollte ich mir ein neues Ziel setzen, und da kam mir die Idee mit den FKTs.“ Ursprünglich wollte er abseits des im Rennsport bestehenden Leistungsdrucks wieder fit werden, doch Flo fand bald heraus, dass es bei FKTs um mehr geht als nur darum, über eine selbst gewählte Strecke zu fegen.
Punkt 07:30 Uhr und das Piepen von Flos Fahrradcomputer signalisiert, dass es losgeht. Es gibt keine Zuschauer oder offiziellen Starter, nur einen einsamen Fahrer, der aufbricht, um seine Grenzen auszutesten. Ein Solo gegen die Uhr. Das Festlegen einer willkürlichen Zeitvorgabe, an der sich andere dann messen können. Als Flos Schuh in die Pedale klickt, fällt die gesamte Anspannung der Vorbereitung von ihm ab. Das stundenlange Training, die wochenlange Corona-Erkrankung, das nächtelange Durchforsten von Karten, als seine fixe Idee Wirklichkeit wird und die FKT bevorsteht. Jetzt gilt es nur noch, sich auf die wunderschöne Rundstrecke zu konzentrieren.
Die verinnerlichten Streckeninfos werden zu Wegpunkten, zu Orten, die es anzusteuern gilt, zu steilen Anstiegen, die man sich hochquält, und zu technischen Abfahrten, die gemeistert werden müssen. Dank der Vorbereitung kann Flo sich seine Tour nun einteilen und mit jeder Pedalumdrehung kommt er dem Gipfel des Kronplatzes und der lang ersehnten Abfahrt zum Ziel näher. „Was wäre, wenn …?“-Sorgen weichen der Konzentration auf das Hier und Jetzt – ein Zen-ähnlicher Moment, in dem die Konzentration allein auf die Fahrt gerichtet ist.
Im Mittelpunkt jeder FKT steht die Strecke. Sie muss etwas Außergewöhnliches sein, das Menschen dazu inspiriert herauszufinden, ob sie die Strecke in Bestzeit bewältigen können. Das kann ein legendärer Parcours sein oder es kann sich um einen fantastischen Ort handeln. Wichtig ist diese Einzigartigkeit, die dem Fahrer Genugtuung verschafft und ihn zur Vorbereitung auf die FKT motiviert. Dazu sagt Flo: „Ich habe mich für eine neue FKT-Strecke entschieden und nicht für eine, für die bereits jemand anderes eine Bestzeit vorgegeben hat. Das fand ich einfach inspirierender. Während ich durch Corona von der Welt abgeschottet war, gab mir die Planung einen Vorgeschmack auf das Draußensein. Deshalb habe ich auch die Rundstrecke um den Kronplatz in Südtirol gewählt. Sie ist nicht allzu weit von meinem Wohnort in Süddeutschland entfernt, allerdings weit genug, um mich zu motivieren. Außerdem kenne ich die Gegend bereits vom Skifahren gut und wollte sie gern weiter erkunden.“ Was Flo nicht erwähnt, ist die Verbindung zum Profiradsport: Bereits zweimal war dieser berühmte italienische Berggipfel Ziel des Giro d'Italia.
Der Kronplatz ist etwas Einzigartiges in der Welt der Alpengipfel. Im Vergleich zu anderen Gipfeln ist er eher niedrig und wurde geschickt in einen Outdoorspielplatz umfunktioniert, der Naturliebhaber im Sommer wie im Winter anzieht. Dieser Gipfel ist auch für die ausgefallenen Baustile des Lumen Museums für Bergfotografie und des Messner Mountain Museum bekannt, die auf Flos Strecke liegen. In ihrer Linienführung unterscheiden sie sich deutlich von den traditionellen Häusern, die zuvor den Weg säumten, und doch passen sie irgendwie zu der funktionsorientierten Form der zahlreichen Gondelstationen, die rund um den Gipfel zu finden sind. Trotz ihrer zweifellos außergewöhnlichen Architektur besteht eine Harmonie und ästhetische Synergie mit den schier endlosen felsigen Berggipfeln, auf die man von hier aus blickt. Flo ist jedoch nicht hier, um sich mit Baustilen zu befassen oder die Aussicht bei der Runde über den Kronplatz zu genießen, obwohl er dabei schon ein klein wenig entspannter aussieht als noch zuvor beim Anstieg. Mit stählernem Pokerblick, der auf seine Wurzeln im Elite-Radsport schließen lässt, zieht er schnell seine Armlinge hoch, um dann die Abfahrt hinunterzubrettern und sein Ziel zu erreichen.
Diejenigen, die bereits Erfahrung mit FKTs haben, sind sich einig, dass die Planung am meisten Spaß macht, denn wie Reese Ruland, die Frau hinter cyclingfkt.com, sagt, „kann jedes Detail berücksichtigt werden, so dass der Fahrer wie ein Strippenzieher die Kontrolle über seine FKT hat. Dadurch kann er sicherstellen, dass bei seinem Versuch alles günstig für ihn läuft“. Für den Neuling Flo war das eher so etwas wie ein Abtauchen in eine unbekannte Welt bei der Vorbereitung auf seine Kronplatz-FKT – und auch danach.
„Nach der doch recht zeitaufwendigen Streckenplanung fuhr ich die Strecke zweimal ab, um sicher zu sein, dass sie perfekt war. Ich kannte nicht nur jede Kurve, sondern auch die entscheidenden Punkte an den steilen Anstiegen und in den technischen Abfahrten, sodass ich nicht nur mein Fahrrad-Setup, sondern auch meinen Ernährungsplan, meine Bekleidung und meinen Zeitplan für das Training optimal abstimmen konnte“, erklärt Flo.
2-fach SHIMANO GRX, dazu eine Trinkflasche und ein Gel: Das war die essenzielle Ausstattung für das Unterfangen, denn er wusste, dass die Schaltung und das minimale Setup am FKT-Tag perfekt sein würden, auch wenn er bei den beiden Erkundungsfahrten an der ein oder anderen Steigung schieben musste. Dazu sagt Flo: „Im Nachhinein hätte ich mich etwas mehr auf die Reifen und den Reifendruck konzentrieren sollen. Aus meiner Zeit als Profirennfahrer weiß ich noch, wie viel Arbeit es ist, den Reifendruck für die großen Rennen einzustellen. Bei der technischen Abfahrt und auch bei den langen Abschnitten auf steilem Schotter habe ich das Gefühl, dass ich mit etwas breiteren Reifen und weniger Druck hätte fahren können, weil ich nirgendwo auf meiner Strecke die volle Geschwindigkeit für eine Straße brauchte.“ Und der minimalistische Ansatz, weder einen Schlauch noch ein Multitool mitzunehmen? Ganz einfach: Wenn es heute schiefgeht, versucht er es einfach an einem anderen Tag nochmal.
Während der morgendliche Ansturm österreichischer und deutscher Touristen im Rentenalter mit der Gondel zum Kronplatz hinauffährt, braust Flo heran und beendet seine FKT. Er schüttelt seine leicht schweiß- und staubverkrusteten Arme. Flos Zeit steht: 2:49:06. Eine Zeitvorgabe, die es nun zu unterbieten gilt. Flo lächelt kurz in sich hinein. Keine jubelnden Menschenmengen, keine Preisverleihungen und noch nicht mal Flaschensammler gibt es. Nur ein paar Leute auf der Terrasse eines Cafés, von dem aus man Flos Zielpunkt im Blick hat. Sie schauen kurz von ihren Kaffeetassen auf und alles, was sie sehen, ist ein einsamer, schwarz gekleideter Gravel-Biker.
Als wir uns nach der Fahrt mit Flo unterhielten, war klar, dass ihn das FKT-Fieber gepackt hat. „Obwohl ich mich vom Rennsport zurückgezogen habe, bin ich immer noch jemand, der gerne an seine Grenzen geht, und das hat mir an diesem FKT-Versuch gefallen. Ich war mir zwar der Anstrengung bewusst, doch der nicht nur bei den Anstiegen, sondern auch den Abfahrten geforderte Fokus war echt heftig. Ich hatte das anfangs nicht erwartet, aber da ist etwas Einzigartiges, das die FKTs zu einer interessanten Erfahrung macht. Auf Rennen folgt ein Moment der Reflexion über das Endergebnis, aus dem du lernen und das Gelernte mit ins nächste Rennen nehmen musst. Bei einer FKT hingegen kannst du deine Schlüsse ziehen und einfach nochmal fahren. Diese Idee finde ich großartig – es ist nie vorbei. Wenn ein Fahrer zum Kronplatz kommt und meine Strecke 10 Minuten schneller fährt, spornt mich das zu hartem Training an, um ihn wiederum zu unterbieten. Obwohl jeder auf sich gestellt ist, habe ich das Gefühl, dass es eine riesige Community rund um FKTs gibt, an der ich mich gerne stärker beteiligen möchte. Das entspricht meinem Credo, dass man für seine eigene Geschichte verantwortlich ist und selbst entscheidet, wie, wo und wann man fährt“, erklärt Flo.
Neben den langwierigen Überlegungen, wie sich durch Training, Setup und kleine Feinheiten am FKT-Tag Flos Fahrzeit auf der Kronplatz-Route verkürzen lässt, hat ihm die Challenge auch eine Welt neuer FKT-Möglichkeiten eröffnet. „Ich habe bereits angefangen, mir FKTs anderer Fahrer anzuschauen, und auch solche, die ich mir selbst als neue Strecken vornehmen könnte. Da ich in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen in den bayerischen Alpen wohne, gibt es so viele potenzielle Routen, dass ich schon über meine nächste FKT nachdenke. Ich fahre immer noch gerne Rennen, aber ich denke, dass FKTs im kommenden Jahr einen Großteil meiner geplanten Pläne ausmachen werden, also bleibt dran“, sagt er abschließend.
Das ist der perfekte Abschluss dieser FKT-Geschichte, oder besser gesagt, dieses Teils von Flos FKT-Geschichte. Denn wie Reese sagte, als wir sie über die Feinheiten des FKT-Sports ausfragten, wirken sie wie ein Kick, von dem man nicht genug bekommt. „Das ist das Interessante an FKTs: Es ist wie bei Kindern auf dem Spielplatz, die sich gegenseitig herausfordern, etwas schneller als ein anderer zu machen, nur ist der Umfang eben größer. Und im Nachhinein interessiert es niemanden mehr, ob du eine neue Bestzeit aufgestellt hast oder nicht. Ja, du wirst die Genugtuung verspüren, deine FKT geschafft zu haben, doch darauf folgt dann eine Phase des Schwelgens, weil sich dein Fokus verschoben hat. Der einzige Weg, um aus dieser Trägheit wieder herauszukommen, ist, dir ein neues Ziel zu setzen und eine neue FKT zu suchen, in die du dich dann voll reinhängen kannst.
Vielen Dank an das Südtiroler Fremdenverkehrsamt für die Unterstützung bei dieser FKT. Nähere Informationen über diese fantastische Location findest du hier: https://www.suedtirol.info/de/newsletter