Es war Ende Februar. Henna saß an ihrem Schreibtisch in Innsbruck und sah auf der Landkarte nach, ob es in der Nähe Skigebiete gäbe, die problemlos mit dem Gravel-Bike zu erreichen wären. Dieser Winter in den österreichischen Alpen war der kälteste, an den sie sich erinnern konnte – könnte Gravel die Lösung ein?
Normalerweise wäre Henna zu dieser Jahreszeit mit ihren Freundinnen auf Skiern im Tiefschnee unterwegs, während ihre Räder als Staubfänger dienten. Doch dieses Jahr war es anders. Sie wollten herausfinden, ob sich die beiden Sportarten nicht kombinieren ließen: Bikepacking und Skifahren.
„Unglaublich, wir machen das wirklich!“, rief Malva, während sie in Innsbruck vorsichtig auf ihr Bike stieg. „Mein Rad wackelt wie ein Kuhschwanz, ist das normal?“, fragte Henna knapp 500 Meter später. Sami meinte nur, sie würden sich bis zu ihrem Ziel in den Dolomiten schon noch daran gewöhnen. Genau, die Dolomiten. Diese legendären, scharfzackigen Gipfel mit ihren steilen Felswänden, die nur ein paar Hundert Kilometer entfernt waren und damit noch mit den Rädern zu erreichen.
Abgesehen von ihren schwer bepackten Bikes plagte die Fahrerinnen auch der Zweifel, ob ihr Plan eines fünftägigen Rad- und viertägigen Skiabenteuers von Innsbruck zum Gardasee nicht zu einer Tour des Leidens werden könnte.
Schneeflocken und Felszacken
„Das müsste eine Premiere sein: in die Berge zu radeln, um Skitouren zu gehen“, meinte Henna, als sie sich die Berge hinauf quälten, um zum Ausgangspunkt ihres ersten Skiabenteuers zu gelangen. Die Schneegrenze lag dieses Jahr zwischen 1.000 und 1.500 Metern über dem Meeresspiegel und damit deutlich höher als sonst. Also mussten sie erst mal ein gutes Stück den Berg hinauf fahren und anschließend mit den Skiern den restlichen Aufstieg bewältigen. „Auf jeden Fall sind wir gut aufgewärmt, bis wir uns die Ski anschnallen“, antwortete Malva lachend.
Kurz nachdem das Team an der ersten Unterkunft angekommen war, begann es zu schneien. Das schürte die Hoffnung auf einige unberührte Abfahrten für den nächsten Tag. Als sie am Morgen schließlich aufstanden, waren Bäume und Hausdächer mit einer dünnen Schneeschicht überzogen, sodass die ganze Stadt im Licht der Morgensonne glitzerte. Jetzt waren sie bereit für den Aufstieg zu ihrer ersten Skitour. „Vorsicht vor den Felszacken“, rief Henna und legte bei ihrer Abfahrt von der Vennspitze eine neue Spur in die noch unberührte Schneedecke. Tatsächlich lag noch nicht genug Schnee, um alle Felsen unter sich zu begraben. Doch davon ließen sie sich nicht aufhalten und genossen die ersten Schwünge ihres mehrtägigen Skiabenteuers. Anschließend waren sie sich einig: der Schnee war recht hart, doch die Abfahrt machte tierisch Spaß!
Während sie ihre Räder packten, erinnerten sie sich daran, dass noch 31 Kilometer sie von ihrer nächsten Unterkunft trennten. Ziemlich erschöpft passierten sie bei Minustemperaturen und schon einsetzender Dunkelheit die Grenze zu Italien. Mittlerweile trugen sie alle Schichten am Körper, die sie bei sich hatten, um sich bei der Abfahrt nach Vipiteno hinunter vor der Kälte zu schützen. „Ich glaube nicht, dass wir das die nächsten 7 Tage hintereinander aushalten“, meinte Sami nach ihrer Ankunft. Die anderen nickten schweigend ihre Zustimmung, sie hatten ihre Lektion gelernt. Ab sofort würden sie pro Tag nur noch eine Disziplin angehen, um die Anstrengung im Rahmen zu halten und – viel wichtiger – ihr Abenteuer mehr genießen zu können.
Eis und Dolomitengipfel
„Ich glaub's nicht! Ist das eine Skipiste?“, rief Sami, nachdem sie sich endlich über einen abgesperrten Pfad mit hunderten umgestürzter Bäume gequält hatten. Die Routenplanung für eine winterliche Bikepacking-Tour war wesentlich komplizierter als im Sommer, wie sie bereits schmerzlich festgestellt hatten. All die schönen schmalen Gravel-Strecken waren jetzt unter Schnee begraben oder hatten sich in Langlaufloipen verwandelt, die wiederum in der Sonne zu spiegelglatten Eisfeldern zusammenschmolzen. „Auf keinen Fall bremsen“, rief Henna, während sie über das Eis schlitterte. Zwar konnten sie einen Sturz vermeiden, doch nach diesem Erlebnis beschlossen sie, die noch fehlenden Kilometer lieber auf etwas größeren Straßen zurückzulegen, um weitere unliebsame Überraschungen zu vermeiden.
Während sie ihre Räder über eine Skipiste schoben, wanderten ihre Blicke zu den Dolomitengipfeln, die nun vor ihnen am Horizont auftauchten. Für die 90 Kilometer zu ihrem Campingplatz hatten sie den ganzen Tag gebraucht, aber die im Licht der untergehenden Sonne violett und pink schimmernden Gipfel boten ihnen einen Empfang, wie sie ihn sich nicht besser hätten erträumen können. Das Geräusch der Regentropfen auf der Zeltplane am nächsten Morgen war allerdings ein Dämpfer. Offenbar waren 1.500 Höhenmeter nicht hoch genug, um den Regen in Schnee zu verwandeln. „Dort ist normalerweise eine Abfahrt möglich“, meinte Henna und zeigte auf einen Gipfel zu ihrer Linken. Sie waren gerade auf dem Weg zur Lavarella-Berghütte und wegen des ausbleibenden Schnees würden sie wohl oder übel ihren Plan für den nächsten Tag ändern müssen. Für die von ihnen geplante Abfahrt lag einfach nicht genug Schnee.
„Der restliche Hang besteht von hier bis zum Gipfel aus blankem Eis“, so Malva. Nach ihrer Ankunft an der Hütte hatte es noch geschneit, allerdings verhinderte der starke Wind, dass der Schnee auf dem eisigen Hang liegen blieb. Diesen Winter war jede Menge Kreativität nötig, um aus den jeweiligen Bedingungen das Beste zu machen – egal wie schlecht das Wetter war. Nachdem sie sich eine Weile umgesehen hatten, entdeckte das Team eine Felsrinne und eine offenbar schneereiche Mulde, die vielversprechend aussahen. Also beschlossen sie, es zu wagen. „Auf geht's, Mädels“, schrieb Sami in den Schnee, während Malva und Henna mit dem Aufstieg durch die Rinne begannen. Der Wind war ziemlich frostig, aber zumindest kam die Sonne raus, als sie sich schließlich an die Abfahrt machten. „Nicht wirklich perfekt, aber um Längen besser, als ich erwartete“, so Henna. Sie war zufrieden damit, wie sich der Tag entwickelt hatte, und am Abend tauchte die Sonne auch noch die Berge in sanft-warme Farbtöne. War für ein wunderbarer Abschluss dieses Tages.
Die Abkürzung nach oben
„Ich bin gerade etwas fertig“, meinte Malva, als das Massiv der Dolomiten vor ihr aufragte. Unter Rennradfahrern war der Berg berühmt und wurde nun von drei Fahrerinnen im Kriechtempo mit 2 km/h und ihren durch die Skiausrüstung nun 40 Kilogramm schweren Rädern in Angriff genommen. Aber als schließlich das Licht der Sonne am frühen Abend auf die Marmolada und den dort frisch gefallenen Schnee fiel, ergab alles plötzlich einen Sinn – sogar dieser neuntägige Skiausflug mit dem Rad.
In dem Wissen, dass eine Seilbahn hinauf zur Königin der Dolomiten führte, beschlossen die drei, sich an ihrem letzten Tag mit einer besonders langen Abfahrt zu belohnen. Zwischen den Felswänden konnten sie frische Spuren legen und hatten großen Spaß, die Spuren der Skifahrer vor ihnen zu kreuzen. Zum Glück gab es neben dem alten auch viel guten Neuschnee. Mit einem dicken Grinsen im Gesicht packten sie schließlich ihre Skiausrüstung wieder auf ihre Räder und fuhren zur nächsten Unterkunft hinunter.
Nun ließen Henna, Malva und Sami die majestätischen Gipfel der Dolomiten hinter sich und näherten sich dem Gardasee. Endlich wurde es auch etwas wärmer. Dankbar entledigten sie sich der dicken äußeren Lagen und genossen die Fahrt durch die italienischen Weinberge, vorbei an sich unterhaltenden Radfahrern. Ob es der Rückenwind war oder der Gedanke an den Champagner, der ihnen in ihrer letzten Unterkunft geschenkt worden war und den sie bald köpfen würden, auf jeden Fall rollten sie nahezu mühelos in Riva del Garda ein.
„Wir haben es tatsächlich geschafft!“, rief Sami, als sie die Champagnerflasche öffnete und Henna und Malva damit eine Dusche verpasste. „Und es war nicht nur eine Tour der Leiden“, gab Henna zurück. „Auf dieser neuntägigen Reise konnten wir zwei unserer Lieblingssportarten kombinieren und erlebten eine wunderbare Mischung aus Schweiß, Lachen, Eis, Schnee und Freundschaft.“ Ob sie es nochmal machen würden? „Auf jeden Fall!“
Bio
In Finnland geboren, ist die digitale Nomadin Henna Palosaari schon lange Mitglied der SHIMANO Gravel Alliance, exzellente Tourenplanerin und Allround-Kreativtalent.
Fotos: Richard Buchner