Wenn es eine Sache gibt, an der man als Radsportler in Kolumbien kaum vorbei kommt, dann ist das Höhenluft. Die andere Sache sind unbefestigte Straßen. Wer sich von der Knappheit an Sauerstoff und Asphalt nicht abschrecken lässt und beschließt, zum Radfahren nach Kolumbien zu fliegen, wird kolumbianischen Boden höchstwahrscheinlich zuerst in der Hauptstadt Bogotá betreten, die mit 2640 m ü. M. die am dritthöchsten gelegene Hauptstadt der Welt ist. Da sich der Shimano Gravel Alliance Fahrer Sofiane Sehili für ein 18-tägiges Gravel-Abenteuer in großen Höhen aufgemacht hatte, haben wir beschlossen, seine Erfahrungen mit dem Wissen eines Experten zu einem realistischen Ratgeber für Touren in großen Höhen zu kombinieren.
Umgang mit den ersten Tagen in der Höhe
Der Radsportler:
Wenn du wie ich aus dem Flachland direkt in die Höhe kommst, ist es keine schlechte Idee, sich ein paar Tage zu akklimatisieren, bevor du ambitioniertere Touren in Angriff nimmst. Bogotá ist eine schöne (wenn auch einschüchternd große) Stadt, und es bietet sich auf jeden Fall an, sie kennenzulernen und dabei hervorragenden Kaffee zu genießen. Also habe ich genau das getan. Ich verbrachte entspannte Stunden im Altstadtviertel La Candelaria und flanierte durch das hippe Viertel Chapino. Nachdem ich das Touristenprogramm erledigt hatte, suchte ich mir eine nahe gelegene Stadt als Ausgangspunkt für meine Radsportaktivitäten aus. Ein paar Tage reichen nicht aus, um sich auf 3000 Höhenmeter zu akklimatisieren, sie helfen lediglich, den Jetlag zu überwinden. Zum Einstieg unternahm ich eine lockere vierstündige Tour auf Asphalt und steigerte mich am nächsten Tag auf 6 Stunden. Einige steile Anstiege stellten meine Lungen auf die Probe, aber da sie nicht besonders lang waren, fühlte ich mich hinterher nicht ausgelaugt. Mein Ziel war die schöne Stadt Villa de Leyva, die tiefer als Bogotá liegt, sodass ich dort erholsamer schlafen konnte.
Der Experte:
Aufgrund des niedrigeren Sauerstoff-Partialdrucks in der Atemluft kommt es bei nicht akklimatisierten Personen zu einer akuten Senkung der arteriellen Sauerstoffzufuhr. Zur Wettkampfvorbereitung kann bereits ein kurzer Aufenthalt von 5-10 Tagen vor einem Wettkampf ausreichen, um durch die Akklimatisierung Leistungsverbesserungen bei Höhenklima zu erzielen. Im Normalfall empfehle ich einen Aufenthalt von mindestens 16 Tagen, wobei möglichst 14 Stunden pro Tag in der Höhe verbracht werden sollten.
„Wenn du aus dem Flachland direkt in die Höhe kommst, ist es keine schlechte Idee, sich ein paar Tage zu akklimatisieren, bevor du ambitioniertere Touren in Angriff nimmst.“
Schlafen in der Höhe
Der Radsportler:
Schlafen in der Höhe fällt oft schwer, wenn du nicht akklimatisiert bist. In großen Höhen habe ich schon viele schlaflose Nächte erlebt. Der Jetlag war ebenfalls nicht förderlich, und so hatte ich trotz meiner Müdigkeit vom Fahren Schwierigkeiten, nachts ausreichend Ruhe zu finden. Um die Einschlafprobleme nicht noch zusätzlich zu verstärken, habe ich in den letzten 60 Minuten vor dem Zubettgehen jegliche Bildschirme (Smartphone/Laptop/Fernseher usw.) gemieden und stattdessen ein Buch gelesen. Auch Atemtechniken halfen mir beim Einschlafen, aber meistens kam ich auf eine Stunde weniger Schlaf als üblich.
Der Experte:
Die Schlafqualität ist in der Höhe oft schlechter, das liegt daran, dass die Atem- und Herzfrequenz und der Grundumsatz erhöht sind. Das ist eine normale Reaktion und um die Schlafqualität zu verbessern, ist eine gute Schlafroutine zu empfehlen.
Harte Beanspruchung in der Höhe
Der Radsportler:
Richtig ernst wurde es einige Tage später mit zwei Kletterpassagen auf über 3800 m Höhe. Diese fanden an meinem erst vierten Fahrtag und meinem sechsten Tag insgesamt in Kolumbien statt. War es schwer? Klar doch. Aber ehrlich gesagt kann ich nicht genau sagen, was daran so schwer war. War es der Regen? Die Kälte? Die Straße, die so schlecht war, dass mir über 80 km kein einziges Auto begegnete? Die Höhe? Wahrscheinlich war es eine Mischung aus allem, jedenfalls fand ich es schwerer als üblich. Um ein Beispiel zu nennen: Als ich am Gipfel angelangt war, hielt ich an, um mir für die Abfahrt warme Kleidung anzuziehen. Und nur meine Daunenjacke anzuziehen war so anstrengend, dass ich außer Atem geriet. Es versteht sich von selbst, dass solch eine Mammut-Kletterpartie auf 4200 m Höhe über dem Meeresspiegel sehr sorgfältig kalkuliert werden muss. Entscheidend ist, den richtigen Rhythmus zu finden. Ein Herzfrequenzmesser kann hilfreich sein, aber ich trage keinen, wenn ich Touren fahre, also fuhr ich nach Gefühl. Langsam, aber gleichmäßig.
„Nur meine Daunenjacke anzuziehen war so anstrengend, dass ich außer Atem geriet.“
Der Experte:
In der Höhe steigt die Herzfrequenz an und im Vergleich zur Meereshöhe kostet es mehr Anstrengung, die gleiche Leistung zu produzieren. Es empfiehlt sich also, die Herzfrequenz zur Messung der Intensität heranzuziehen, nicht der Leistung. Da die Höhe einen negativen Einfluss auf die Leistung im Training hat, absolvieren die meisten Athleten das eigentliche Training lieber in niedrigeren Höhen. Das bedeutet, in der Höhe zu schlafen, zu regenerieren und insgesamt dort möglichst viel Zeit zu verbringen, aber die Trainingseinheiten in so niedriger Höhe wie möglich zu absolvieren, sodass der dort höhere Sauerstoffpartialdruck die Leistung nicht beeinträchtigt. Ein längerer Aufenthalt in großer Höhe steigert den natürlichen Erythropoetin-(EPO)-Wert im Körper, der wiederum die Produktion roter Blutkörperchen steigern und letztlich die Sauerstoffversorgung der arbeitenden Muskeln verbessern kann.
„Ein längerer Aufenthalt in großer Höhe führt zu einer verbesserten Sauerstoffversorgung der arbeitenden Muskeln.“
Effizientes Atmen in der Höhe
Der Radsportler:
Manchmal merkte ich, dass ich einige Male zu hart in die Pedale getreten hatte, weil ich das dringende Bedürfnis bekam, meine Lunge mit so viel Luft wie nur möglich zu füllen. In 4000 Metern Höhe braucht es nicht viel, um außer Atem zu kommen. Ein verbreiteter Irrtum ist, dass der Sauerstoffanteil in der Luft mit zunehmender Höhe abnimmt. Tatsächlich besteht die Luft immer zu 21 % aus Sauerstoff, egal wie hoch du kletterst. In größeren Höhen herrscht aber ein anderer Luftdruck. Das bedeutet, dass bei gleichbleibendem Luftvolumen in der Lunge weniger von allen Gasen vorhanden ist, aus denen die Atemluft besteht. Also auch weniger Sauerstoff und mehr Schnappen nach Luft.
Der Experte:
Der Körper reagiert auf den niedrigeren Sauerstoffpartialdruck in der Atemluft durch den Versuch, die Sauerstoffzufuhr im Körper zu verbessern. Zunächst geschieht dies durch eine Steigerung von Atemfrequenz, Lungenventilation und Herzfrequenz.
Angemessene Flüssigkeitszufuhr in der Höhe
Der Radsportler:
In meinen vielen Jahren im Sattel habe ich herausgefunden, dass der Durst alleine kein ausreichender Indikator dafür ist, wie oft man trinken sollte. Das gilt insbesondere in der Höhe. Um sicherzustellen, dass ich nicht dehydriere, habe ich mich dazu gezwungen, ungefähr alle 20 Minuten etwas zu trinken. Die Flüssigkeitsmenge war dabei natürlich variabel. Manchmal war es nur ein Schluck, manchmal ein Drittel der Flasche. Bei 9 °C und Regen ist es natürlich nicht nötig, einen Liter pro Stunde zu trinken. Aber diese Routine aufzustellen war die beste Methode, um eine Dehydrierung zu verhindern. Außerdem hatte ich Wasserreinigungstabletten dabei. So konnte ich, falls es für lange Zeit keine Läden an der Strecke gab, aus Bächen oder Flüssen trinken. Ich musste nur sicherstellen, dass die Reinigungstablette 30 Minuten lang im Wasser wirken konnte, dann war es trinkbar.
Der Experte:
Da die Atemfrequenz in der Höhe ansteigt, dehydriert man auch schneller – man sollte immer wieder das eigene Hydrationsniveau überprüfen (das lässt sich leicht an der Farbe des Urins erkennen) und die Flüssigkeitszufuhr um mindestens 500 ml pro Tag erhöhen.
„Ich habe mich dazu gezwungen, ungefähr alle 20 Minuten etwas zu trinken.“
Energiezufuhr in der Höhe
Der Radsportler:
Mich angemessen mit Energie zu versorgen war eine Herausforderung – insbesondere, weil ich jeden Tag sehr lange Strecken fuhr und deshalb nicht immer Zeit hatte, eine richtige Mahlzeit einzunehmen. Wann immer es möglich war, nahm ich Papas Rellenas zu mir, das sind frittierte, mit Hackfleisch und Gemüse gefüllte Kartoffelkroketten. Ich fand sie gut, weil sie leicht verfügbar waren und eine gute Quelle für Kohlenhydrate, Fett und Salz darstellten.
Während des Tages aß ich wie ein normaler Mensch (vielleicht sogar weniger), aber beim Abendessen wurde ich zum Monster. Meistens ging ich irgendwo essen und bestellte zwei Hauptmahlzeiten direkt hintereinander, was für Irritationen bei den Kellnern sorgte. Sie fragten mich dann „Para llevar?“ (Zum Mitnehmen?) und ich antwortete: „Nein, bringt mir schnell das Essen... Ich esse alles auf.“ Anschließend ging ich meist in einen kleinen Lebensittelladen und deckte mich mit Süßigkeiten ein, um sie dann im Hotel zu verspeisen.
Der Experte:
Der Grundumsatz (die Menge an Kalorien bzw. Energie, die der Körper im Ruhezustand verbrennt) steigt in der Höhe an, daher wird empfohlen, den erhöhten Verbrauch durch eine um 5-700 Kcal erhöhte Kalorienzufuhr pro Tag zu kompensieren. Ein Gewichtsverlust ist nicht das Ziel des Höhentrainings, er wirkt sich vielmehr nachteilig auf die hämatologischen Verbesserungen aus. Beim Höhentraining also immer das Gewicht halten.
„Meistens ging ich irgendwo essen und bestellte zwei Hauptmahlzeiten direkt hintereinander.“
Wie du das Optimum aus deinem Höhenaufenthalt herausholst
Der Radsportler:
Mein Aufenthalt dauerte etwa drei Wochen und endete mit der Befahrung eines der längsten Anstiege der Welt: des Alto de Letras. Das ist keiner der Gipfel, bei denen du an die Spitze gelangst und anschließend sofort die Abfahrt genießen kannst. Stattdessen kommst du auf 4000 m Höhe und fährst anschließend ein 20 km langes Flachstück mit kontinuierlichen Wellen. Und das natürlich unbefestigt. Das ist eine lange Zeit mit so wenig Sauerstoff. Hier merkte ich jedoch, dass mein Körper sich nun endlich an die Höhenverhältnisse angepasst hatte. Es war natürlich immer noch nicht so wie auf Meereshöhe, aber ich war nicht mehr so kurzatmig wie zu Beginn der Reise. Aber kommt es beim Bikepacking wirklich auf den Leistungsaspekt an? So lange du keine Kopfschmerzen hast (oder sogar akut höhenkrank wirst) und auf dem Rettungsring die steilen Anstiege hochkurbeln kannst, ist alles in Ordnung. Das Ziel ist nicht, am schnellsten zu sein, sondern die fantastische Umgebung zu genießen, die Landschaften, die einem nur in großen Höhen begegnen. Und die Mühe, die du auf dich nehmen musst, um dorthin zu gelangen, macht sie noch schöner.
Der Experte:
Psychologisch gesehen kann der „Trainingslagereffekt“ oft den bedeutendsten Faktor darstellen. Bei Höhenaufenthalten steigert sich oft die individuelle Motivation, alle Aspekte des Trainings und der Lebensführung einschließlich der Ruhepausen gewissenhaft durchzuführen und zu überwachen, was einen großen Einfluss auf den Trainingserfolg hat. Das lässt die Frage aufkommen, ob tatsächlich die Höhe oder eher der Trainingslagereffekt zu einer Leistungsverbesserung führen? Ich glaube, das von beidem etwas eine Rolle spielt.
„Das Ziel ist nicht, am schnellsten zu sein, sondern die fantastischen Landschaften zu genießen, die einem nur in großen Höhen begegnen.“
Autoren:
Sofiane Sehili - Nachdem er über das Berufspendeln die Lust am Radfahren entdeckt hatte, wollte Sofiane mehr davon, begann mit Bike-Touren und entwickelte eine dauerhafte Leidenschaft für Abenteuer per Muskelkraft auf zwei Rädern. Es dauerte nicht lange und er lernte die Ruhe und Abgeschiedenheit von Offroad-Touren zu schätzen. Als dann die Gravelbike-Revolution begann, war er sofort mit an Bord. Im Laufe der Jahre wuchs seine Leidenschaft für immer längere Distanzen und er wurde zu einem erfolgreichen, auf Offroad-Rennen spezialisierten Ultra-Langstreckenfahrer. Er berichtet, dass sich nach einer langen und mühsamen Phase von Versuch und Irrtum endlich die ersten Siege einstellten und die Teilnahme an den längsten und härtesten Rennen der Welt mittlerweile zu seinem Vollzeit-Job geworden ist.
Elliot Lipski - Ist seit 2013 als Trainingsphysiologe tätig und hat Erfahrungen sowohl im Elitesport als auch als Privattrainer gesammelt. Er hat einen Studienabschluss als Master in Angewandter Trainingsphysiologie von der Universität Brighton und seine Spezialgebiete sind Höhentraining und Ausdauertrainingsanpassung. Derzeit arbeitet er als Trainer beim Team Alpecin-Deceuninck.