Liam Yates: „Stell dir vor, du hättest GTA zu Ende gespielt. Doch dann entdeckst du plötzlich einen vollkommen neuen Bereich der Karte, der dir neue Horizonte eröffnet. Genau das war Gravel für mein Fahrerlebnis.“

Gravel Alliance Fahrer Liam Yates begann früh mit BMX und kam über Fixies, schließlich zum Graveln, wo er die ultimative Freiheit auf zwei Rädern entdeckte.

Da Liams Vater früher Radprofi war, ist Liam quasi mit Fahrrädern aufgewachsen. Eine seine frühesten Erinnerungen ist die an den Spaß, den er hatte, wenn er mit seiner MTB-Clique durch die Wälder rund um sein Elternhaus fegte. Später stieg er auf kleinere Räder um und begann mit BMX. Allerdings hatte er damals mit dem Rennsport nichts am Hut.

Die Schönheit des Gravelns: Neue Horizonte eröffnen

Beim BXM ging es hauptsächlich um den Flow und darum, die paar Sprünge auf dem kleinen Parcours in der Nähe seines Elternhauses in Südengland zu meistern und die eigenen Grenzen zu verschieben. Inspiriert wurde Liam von den X-Games, die er im Fernsehen verfolgt hatte.

Zum Zeitpunkt seines Schulabschlusses hatte er schon einige Pfunde zugelegt und begann schließlich eine Lehre in einem Fahrradladen im Ort. Der Laden war schon seit langem Sponsor von einigen der besten Rennradfahrer des Landes und so tauchte Liam vollkommen in die Welt des Rennradsports ein. Neben der Reparatur und dem Verkauf von Rädern verfolgte er im Laden ständig irgendwelche Radrennen, was schließlich sein Interesse weckte. Ehe er sich's versah, wurde aus den 30 Kilometern Anfahrtsweg zur Arbeit ein Zeitfahren gegen die Uhr.

„Als er mein Interesse bemerkte, meinte mein Dad (Sean Yates, Etappensieger und Träger des Gelben Trikots bei der Tour de France): Lass uns morgen eine Trainingsrunde fahren“, erinnert sich Liam. „Das war die Hölle! Es dauerte dann eine ganze Weile, bis ich mich von jemandem, der einfach nur Rad fährt, zu einem richtigen Rennradfahrer entwickelte.“

Die Schönheit des Gravelns: Neue Horizonte eröffnen

Der nächste logische Schritt war die Teilnahme an richtigen Radrennen, sogar mit einem Abstecher nach Frankreich. Doch am Ende von Liams vierter Saison – trotz seiner Fortschritte und seines unter Beweis gestellten Potenzials – zeigte immer noch kein Team Interesse an ihm.

„Ein bisschen ratlos meldete ich mich für das London Nocturne Fixed Gear Race an, weil ich wissen wollte, warum das alle so toll fanden. Ich schied eine Runde vor Schluss aus, aber die Organisatoren des Rennens stuften mich als einen der Teilnehmer ein, die bei dem eine Woche darauf folgenden Red Hook Crit gute Chancen hätten“, erzählt Liam mit einem Lächeln.

Von der entspannten Stimmung bei den Fixie-Rennen war Liam von Anfang an begeistert: „Bei einem Rennradrennen unterhalten sich die Fahrer vor dem Start so gut wie nie. Alles dreht sich nur um das Ergebnis und sobald das Rennen gelaufen ist, gehen alle wieder nach Hause. Fixed Gear Events stellen die Community in den Vordergrund. Man ist gemeinsam unterwegs und es ist vollkommen egal, ob du als Erster oder Letzter auftauchst. Mir hat das die Augen geöffnet und ich finde, dass der Gravel-Vibe bei Events wie Grinduro ähnlich ist.“

Liams nächster Schritt weg vom Fixie und in Richtung Gravel-Freiheit war das Bikepacking: Er und ein Teamkollege hatten ganz spontan die Idee, vom Brooklyn Red Hook Crit nach Miami zu radeln. „Wir hatten uns in den Kopf gesetzt, die Tour mit unseren Fixed Gear Track Bikes zu fahren. Weder hatte ich einen Fahrradcomputer noch Erfahrung was das Übernachten im Schlafsack im Freien angeht. Aber zwei Tage später waren wir schon unterwegs.

Bis Miami haben wir es nicht geschafft, unser Weg führte uns stattdessen ins Landesinnere nach South Carolina, und ich glaube, wir haben insgesamt so um die 1.000 Meilen zurückgelegt. Wir hatten damals nicht mal Flaschenhalter an den Rädern, sondern haben einfach Sprite-Flaschen aufgefüllt und in den Rucksack gepackt. Schon erstaunlich, wie wir damals unterwegs waren. Aber das war der Beginn meiner Bikepacking-Leidenschaft.“

Liam war so was wie ein Early Adopter und sich ein richtiges Gravel-Bike zu besorgen, war für ihn der nächste logische Schritt – eine Entscheidung, die ihm ein völlig neues Freiheitsgefühl eröffnete. „Ich war hin und weg. Bei meinen Touren in der Umgebung gab es plötzlich so viel Neues zu entdecken. Ich bin beispielsweise schon 200 oder 300 Mal an einer Abzweigung zu einem Reitweg vorbeigefahren, ohne mir den Weg näher anzusehen. Mit meinem Gravel-Bike habe ich nun plötzlich Lust, all diese Wege näher zu erkunden und herauszufinden, wohin sie führen.“ Man hört Liam an, dass er immer noch so begeistert ist wie am ersten Tag.

Die Schönheit des Gravelns: Neue Horizonte eröffnen

„Ab da eröffneten sich mir vollkommen neue Horizonte. Wenn ich früher auf dem Rennrad allein unterwegs war, fühlte es sich meist wie Training an. Doch auf einem Gravel-Bike fühle ich mich mehr wie ein Entdecker. Du lässt die Autos hinter dir, kannst überall hinfahren, wo du willst und musst dir keine Gedanken machen, am Ende vielleicht irgendwo im Nichts zu stranden“, erzählt Liam und deutet auf die Landschaft um sein Zuhause.

Wie für die meisten anderen Gravel-Fans auch ist der Sport für Liam viel mehr als einfach nur eine Radkategorie. In die Organisation eigener Gravel-Events schlitterte Liam mehr so hinein, weil er diesen Vibe mit anderen teilen und der Gravel-Community etwas zurückgeben wollte. „Während des Lockdowns gab es keine Events, also dachte ich mir, ich erstelle uns einfach eine coole Route, die wir abfahren könnten. Am Ende hatte ich mir eine ziemlich schwere Tour für meinen Bruder und die Jungs ausgedacht, die ich dann in den sozialen Medien teilte. Daraufhin wollten unglaublich viele Leute wissen, wo sie die ganzen Streckenpunkte finden könnten. Das brachte mich dann auf den Gedanken, ich könnte daraus vielleicht ein komplettes Event machen.“

Das war der Anfang von SSX [Sussex] Mystery Tour. „Beim ersten Mal haben wir eine Gebühr von 4 Pfund verlangt, was ungefähr dem Preis für den Drink im Ziel entsprach. Fast sofort hat sich um das Event herum eine ganze Community gebildet. Die Strecke scheint auch von Jahr zu Jahr schwerer zu werden. Die Ideen dafür hole ich mir bei anderen Rennen wie dem Silk Road Mountain Race, an dem ich selbst teilgenommen habe. Diese Abschnitte bringen dich dermaßen an deine Grenzen, dass am Schluss alle, die sich hier durchgekämpft haben, eine gemeinsame Erfahrung teilen – selbst wenn sie allein für sich unterwegs waren – und sich für immer daran erinnern.“

Die Schönheit des Gravelns: Neue Horizonte eröffnen

Mit seinem Underground-Vibe und dem Ursprung in einem namenlosen Feld mit einer Sitzbank findet die SSX Mystery Tour nun schon zum vierten Mal statt und die Organisation wird immer ausgefeilter. Während das Konzept der Streckenführung unverändert bleibt – Stichwort knallharte Trails, nette Läden und Cafés, dazwischen wieder schnellere und leichtere Abschnitte – hat sich Liam für das vierte Jahr der Tour eine besondere Location als Start- und Zielort ausgedacht. „Die 150 Teilnehmer werden diese Gegend so erleben wie ein Einheimischer und nicht einfach nur den legendären South Downs Way entlang fahren.“

Wen wundert's, dass sich Liam auch bei seinem Bike-Setup einige Freiheiten herausnimmt. „An mein Canyon kann ich Reifen mit 53 mm montieren. Das wird zwar vom Hersteller nicht empfohlen, aber ich bin immer damit unterwegs. Manchmal muss ich das Profil an ein paar Stellen ein bisschen abschmirgeln, aber so komme ich mit meinem Gravel-Bike in jedem Gelände zurecht. Ich habe mir sogar ein Aero-Cockpit montiert – da blieb den Technikern von Canyon vor lauter Staunen der Mund offen stehen. Dieses Jahr bin ich auf einen PRO Aluminium Bahnradlenkeraufsatz umgestiegen, weil der aerodynamischer ist und eine Aufweitung besitzt. Übrigens fahre ich mit einer GRX 2x11-Schaltung.“ Liam erzählt das ganz nüchtern, ohne zu sehr in die Details zu gehen. Viel lieber konzentriert er sich darauf, wie sich mit einem Setup die Eigenschaften und die Geländegängigkeit eines Bikes verbessern lassen. Also wie viel mehr Freiheit es bietet, wenn es um die Streckenwahl geht.

Für Liam ist Gravel eine Lebenseinstellung und Freiheit ein wichtiges Lebensgefühl, ein Vibe, den er lebt und gerne mit anderen teilt. „Ich war schon überall auf der Welt mit dem Rad unterwegs. Dabei habe ich eins gelernt: gelegentlich ist man an wirklich atemberaubenden Orten unterwegs, ohne sich der Schönheit um einen herum in diesem Moment bewusst zu sein. Aber dann entdeckst du einen versteckten Pfad, vielleicht sogar in einer ziemlich langweiligen Gegend, die du schon tausendmal gesehen hast, und plötzlich hast du das Gefühl, dich mitten in einem spannenden Abenteuer zu befinden. Genau aus diesem Grund kann ich es nicht lassen, die Gegend mit meinem Gravel-Bike zu erkunden.“

Die Schönheit des Gravelns: Neue Horizonte eröffnen

Text: Phil Gale 

Fotos: Ollie Adams

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