Vom heißen Trend zum Dauerbrenner: In kürzester Zeit hat sich das Gravelbike in der sportlichen Fahrradwelt etabliert. Obwohl, so jung wie viele vielleicht glauben, ist das Gravelbike gar nicht. Wir wagen eine kleine Reise in die Historie des Schotter-Radsports.
Was für eine Erfolgsgeschichte! Wie aus dem Nichts hat das Gravelbike die Welt erobert. Immer mehr Menschen fahren voll darauf ab. Die Events in Deutschland und den Nachbarländern sprießen nur so aus dem Boden. Die einen drehen eine schnelle Runde auf mal mehr und mal weniger befestigten Straßen damit, die anderen packen die Taschen und gehen auf große Bikepacking-Tour.
Alle vereint in der Begeisterung für diese ganz neue Art des Fahrrads, das die besten Aspekte von Rennrad und Mountainbike zu einem flotten Gefährt für so ziemlich jeden Untergrund kombiniert - und für eine ganz neue Art des Radfahrens.
Wobei … ganz so neu, wie es vielen Menschen speziell in Deutschland vielleicht scheint, ist das Thema bei näherer Betrachtung eigentlich gar nicht. Denn auch wenn das Gravelbike hierzulande seinen Durchbruch erst kurz vor und dann vor allem mitten während der Corona-Pandemie feierte, wird in anderen Teilen der Welt schon deutlich länger „geschottert“.
Das hat etwa ttler hautnah erleben dürfen. Die heute in der Schweiz ansässige Radsportlerin aus Darmstadt hat einige Jahre im US-amerikanischen Minnesota gelebt. Dort hat sie schon Gravelbike-Rennen bestritten, als in Deutschland nur echte Insider etwas mit dem Begriff anfangen konnten.
„2012 habe ich mit dem 500 Kilometer langen Trans Iowa mein erstes Gravel-Rennen absolviert“, erinnert sie sich. 26 Stunden lang war sie damals auf den schier endlosen Schotterstraßen im mittleren Westen der USA unterwegs. „Ein echtes Gravel-Paradies“, weiß sie und schwärmt von dem angenehmen Miteinander: „Auf dem Gravelbike ist das Gemeinschaftsgefühl wichtiger als der Wettstreit. Das finde ich toll.“
Eine Bewegung kommt in Fahrt
Das Jahr 2012 war es auch, in dem die US-Marke Salsa das erste Fahrrad auf den Markt, das ganz offiziell als Gravelbike bezeichnet wurde: das heute fast schon legendäre Warbird. Das Rad ähnelte weniger einem Cyclocrosser, als einem Rennrad mit Scheibenbremsen und überdimensionierten Reifen.
Damit war es die Antwort auf eine Bewegung, die spätestens mit der Erstausgabe des mittlerweile wohl wichtigsten Gravel-Rennens der Welt richtig Fahrt aufnahm: Dem Unbound Gravel, das 2006 in Kansas seine damals noch sehr überschaubare Premiere feierte.
Heute gilt das Event als die inoffizielle Gravelbike-Weltmeisterschaft. Tausende mehr oder weniger ambitionierte Menschen gehen dort Jahr für Jahr auf unterschiedlichen Streckenlängen an den Start. Darunter auch so mancher ehemalige Rennrad-Profi, der sich mittlerweile dem Gravelbike verschrieben hat. So wie der Niederländer Laurens Ten Dam, die US-Amerikaner Ted King, Peter Stetina und Ian Boswell oder auch der Deutsche Paul Voß.
Doch warum waren es gerade die USA, in denen das Gravelbike seinen Durchbruch erlebte? Die Antwort liegt auf der Hand, oder besser gesagt auf der Straße, beziehungsweise Straßen.
Denn genau die sind in ihrer asphaltierten Form in weiten Teilen der USA echte Raritäten. Sobald es aus den urbanen Regionen hinausgeht, gibt es fast nur noch Highways oder eben unbefestigte Straßen.
Wer in dem riesigen Land also lange Strecken mit dem Fahrrad zurücklegen will, hat zwei Optionen: Entweder die hochgradig unattraktive, gefährliche und ansonsten recht eintönige Fahrt auf den Highways, oder eben ein möglichst sportliches Fahrrad, mit dem auch lange Strecken auf den Schotterstraßen Spaß machen. Noch Fragen?
Gravel: Die alte Lust aufs Abenteuer
Wer jetzt jedoch die USA des frühen 21. Jahrhunderts als Keimzelle des Schotterfahrrads festschreiben will, hat die Rechnung ohne Markus Stitz gemacht. Wieder so ein deutscher Radfahrer, der mittlerweile im Ausland lebt. In seinem Fall in Schottland, wo er gerade an einem Buch über die britische Gravelbike-Kultur schreibt, das im Juli erscheinen wird. ‚Great British Gravel Rides‘ lautet der Titel.
„Es gibt das Gravelbike nicht erst seit 2012. Es gibt das Gravelbike auch nicht erst seit 1955, als eine Gruppe von 40 Menschen aus ihrer Begeisterung für Radfahrten auf rauem, unbekanntem Terrain das ‚Rough-Stuff Fellowship‘ gegründet haben“, sagt er. „Was wir heute Gravelbiken nennen gibt es, seit die Menschen mit ihren Fahrrädern die bekannten Wege verlassen haben, um neue Abenteuer zu entdecken“, bringt Markus Stitz es auf den Punkt.
Helden der Schotterstraßen
Mit diesem Gedanken im Kopf werfen wir einen Blick auf die Fotos von alten Radrennen, etwa von den ersten Austragungen von Tour de France oder Giro d’Italia. Bilder aus Zeiten, in denen die „Helden der Landstraße“ auch deswegen zu Helden wurden, weil die Landstraßen oft allenfalls aus verdichtetem Gestein bestanden – falls man den überhaupt von Straßen sprechen durfte. Spätestens jetzt wird klar: So richtig neu ist an der Idee des Gravelbikes wohl allenfalls der Name.
Straßenrennen wie eben Tour oder Giro haben sich im Laufe der Jahre unter dem Dach des Radsportweltverbandes UCI immer mehr professionalisiert. Ist das auch der Weg, der dem Gravelbike vorbestimmt ist? Weg von dem Gemeinschaftsgefühl hin zum radsportlichen Wettstreit? Weg vom Entdecken der Welt da draußen hin zum Rennfahren? Weg vom Geschichtenerzählen am Lagerfeuer hin zu Wattmessung und Trainingsplänen? Diese Fragen sind Teil einer der wohl spannendsten Diskussionen, die aktuell in der Gravel-Szene geführt werden.
Fakt ist: Die UCI hat das Thema für sich entdeckt und für die Saison 2022 eine erste UCI Gravel World Series angekündigt, die gar in einer offiziellen Gravelbike-WM münden soll. Ob der vielzitierte „Spirit“ der Szene darunter leiden wird oder ob die Entwicklung vielleicht sogar zu einer Bereicherung für diese Spielart des Radsports führt, wird sich zeigen.
SHIMANO GRX: Die erste echte Gravel-Gruppe
Doch eins ist schon jetzt klar: Im Vergleich zu den Radsporthelden von früher haben die Gravelbiker der Neuzeit einen ganz entscheidenden Vorteil. Anders als ihre „Vorfahren“ können sie für ihre Abenteuer auf speziell für diese Art des Fahrradfahrens entwickelte Ausrüstung setzen.
Wie erwähnt, gilt das Salsa Warbird vielen als das erste echte Gravelbike. Und der ganz große Durchbruch kam dann spätestens im Jahr 2019 mit der ersten, eigens für das Gravelbike entwickelten Schaltgruppe: der Shimano GRX. Was an der Gravel-Gruppe so besonders ist und welche Variante am besten zu euch und euren Ansprüchen passt, könnt ihr übrigens hier nachlesen. Oder ihr lasst es euch einfach von Jonny im Video-Talk mit Anke is Awesome erklären.
Fakt ist: Spezifische Gravel-Produkte wie die Shimano GRX haben den Weg für eine Entwicklung geebnet, die dann richtig ins Rollen kam und für viele Menschen auch ein Ausweg aus der Tristesse der Pandemie war. Ein prominenter Beleg dafür ist zum Beispiel die Orbit360-Serie.
Die Idee, den Menschen praktisch vor ihrer Haustür die Kombination aus echtem Abenteuer und sportlicher Herausforderung zu bieten, schlug voll ein. Nur zwei Jahre nach ihrer Gründung ist die Serie fest in der Szene etabliert und feiert vom 3.-6. Juni sogar das eigene Gravity Bike Festival.
Übersicht: Namhafte Gravelbike Events 2022
- Bohemian Border Bash Race, 28. Mai – 4. Juni 2022, Jetřichovice, Tschechien, bohemianborderbash.com
- Garmin Unbound Gravel, 4. Juni 2022, Kansas, USA, unboundgravel.com
- Orbit360 Serie, 4. Juni – 14. August 2022, Deutschland, orbit360.cc
- Dirty Boar Gravel Ride, 3. September 2022, Haute Fagnes, Belgien, dirtyboar.be
- Badlands, 4. September 2022, Granada, Spanien, badlands.cc
- UCI Gravel World Series, 3. April – 24. September 2022*, weltweit, uci.org, *noch nicht offiziell bestätigt
Zum Abschluss gehen wir noch einmal nach Schottland, zu Markus Stitz und seiner ganz besonderen Definition des ‚Gravelbikens‘: „Für mich geht es dabei nicht um die Form des Lenkers oder die Breite der Reifen. Es geht auch nicht um die Geometrie oder die Klamotten. Für mich geht es um die Möglichkeiten, die diese Art des Radfahrens mir bietet. Und vor allem um die Community.“ In diesem Sinne sind wir gespannt, wo die Reise noch hinführt und wie die Fahrradfahrer in 15, 50 oder 100 Jahren auf diese Epoche blicken werden.